Ausgangspunkt
Das analoge Suchen in Archiven bringt mit sich, dass man zwischen den einzelnen Quellen viele Seiten überblättern muss. Bei historischen Zeitungen führt das dazu, dass einen Werbung für Produkte umwirbt, die es längst nicht mehr zu kaufen gibt. Solche Anzeigen (Bild 1) sprechen aber trotzdem an: Sie verweisen auf die Entwicklung der Wunschbildproduktion, mit der wir heute ständig konfrontiert sind – und dies oft, ohne dass wir sie als solche wahrnehmen. Werbung wirkt dann am besten, wenn wir sie als hilfreiche Information annehmen. Im Informationszeitalter mit zunehmend personalisierter Werbeansprache ist das einen Blick zurück wert.
Bild 1
Form und Funktion
Material des Projektes waren 2405 Anzeigen, die in den Jahren 1854 bis 1944 in den Innsbrucker Nachrichten geschalten wurden. Nicht Kurioses wurde dabei ausgewählt sondern einzelne Ausgaben komplett ausgewertet. Diese Sammlung wurde zur Grundlage der beiden Projektteile:
- Einer Werbekampagne im öffentlichen – analogen (Bild 2, Foto: Natalie Deewan) wie digitalen (Bild 3, Screenshot: Johannes Felder) – Raum Innsbrucks
- Einem Ausstellungsprojekt, das von einer Infografik ausgehend in das Werbematerial vergangener Tage führte (Bild 4, Foto: Thomas Schrott)
Werbung wurde hier ihr eigentlicher Zweck genommen. Sie wurde in gewisser Weise 'sich selbst' überlassen. Der Eingriff in den Werbealltag, mit Werbung für nicht mehr käuflich erhältliche Produkte, und die Erzählung von Methoden, Entwicklungen und Absichten des Werbens im Ausstellungsraum, führten die eigene Werbegegenwart vor Augen.
Bild 2
Bild 3
Bild 4
Ausführung
Die Kampagne nutzte alte und neue Wege der Produktion von Aufmerksamkeit. Zum Einsatz kamen die altbewährten und immer noch gefragten Großformatplakate (häufig zu finden an Ein- und Ausfallstraßen, Bild 5), per Hand verteilte Flyer (Bild 6) und eine Anzeige in der meistverteilten Gratiszeitung Tirols (Bild 7). Potentiell für alle sichtbar warben die ausgewählten Sujets im Stadtraum Innsbrucks. Zielgerichteter ging die Aktion im virtuellen öffentlichen Raum von statten. Mit zwei Banner Motiven (Bild 8) richteten wir uns gezielt an ein Publikum, von dem wir dachten, dass es dafür empfänglich sein könnte; z.B. jene mit Interesse für "Kunst und Unterhaltung". Was vom Ziel her vage klingt, hat handfeste Zahlen: 595000 Mal wurden die Banner angezeigt und davon 1030 mal geklickt, überwiegend am Smartphone und relativ häufig durch die Altersgruppe 25 – 44.
Neben der Irritation war die Absicht, mit einer 'Fußnote' Werbung für die Ausstellung „Kein Schwindel! Jetzt neu: Alte Werbung“ zu machen. Wer dem folgte, fand einen Raum gefüllt mit alter Werbung vor. Einen Überblick über alle ausgewerteten Anzeigen bot eine Infografik (Bild 9, Foto: WEI SRAUM). Eine Ebene tiefer ins Material führte die Möglichkeit zum Stöbern in der Anzeigensammlung, da jede der 2405 auf das Bild eines Beamers geholt werden konnte. Einzelne Auffälligkeiten, die sich im Rahmen der Auswertung ergaben, wurden samt Anzeigenbeispielen auf Plakaten thematisiert (Bild 10, Foto: Thomas Schrott). Zwei Arbeiten beschäftigten sich noch mit der persönlichen Ansprache: Ein Smartphone, das Werbung schaltet, wenn es betrachtet wird, und Roboterstimmen lasen alte werbetypengerechte Anzeigen per Mouseklick vor. Und – quasi zur Selbstbetrachtung – zeigte ein Schreibtisch eine Dokumentation der Werbekampagne des Projektes.
Bild 5
Bild 6
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Bild 9
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Vermittlung
Die Kampagne bespielte Werbeflächen Innsbrucks vom 09.04.2018 bis Ende des Monats, am 16.04.2018 wurden sowohl Flyer verteilt als auch die Anzeige in der Gratiszeitung geschalten. Die per Google AdWords geschaltenen Banner erschienen von 03. bis 17.04.2018 auf unterschiedlichsten Websites.
Die Ausstellung "Kein Schwindel! Jetzt neu: Alte Werbung" fand von 17.04. bis 19.05.2018 im WEI SRAUM Designforum Tirol statt.
Anlässlich der Eröffnung (Bild 11, Foto: Thomas Schrott) am 16.04.2018 veranstaltete Natalie Deewan mit dem "Bauchladen der Superlative" ein "exquisites Kadaverspiel mit Gewerblicher Prosa" (Bild 12, Foto: Natalie Deewan).
Am 24.04.2018 kamen Thomas Wegmann, Christian Salić, Kurt Höretzeder und Martin Sexl zu einer Diskussionsrunde (Bild 13, Foto: WEI SRAUM) zusammen, um das "Kommen und Gehen der Litfaßsäule" von unterschiedlichen Standpunkten zu betrachten.
Berichtet wurde über das Projekt von:
- Esther Pirchner: "Kein Schwindel! Jetzt neu: Alte Werbung"
- Barbara Unterthurner: "Jetzt neu: Alte Werbung in Innsbruck"
Begleitend zur Ausstellung erschien der von Stefanie Blasy erstellte "Index des Leidenden" in Buchform (Bild 14, Foto: Stefanie Blasy).
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Bild 14
Beteiligte
Stefanie Blasy (Grafik, Redaktion, Flyern), geboren 1976 in Innsbruck, Verleichende Literaturwissenschaftlerin & Grafikerin, 2000-2005 Bildredaktion Falter-Verlag (Wien), deutsch magazine und Die Zeit, Ressort Leben (Berlin), seit 2006 freie Grafikerin in Innsbruck, 2016 Studienabschluss Diplomstudium Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Innsbruck. stefanieblasy.at
Johannes Felder (Redaktion, Kampagne), geboren 1983 in Rum in Tirol, Ausbildung: Diplomstudium der deutschen Philologie 2003 - 2014, lebt in Innsbruck und ist Werbetexter, Fotograf und bildender Künstler.
Richard Schwarz (Konzept, Recherche, Redaktion, Ausstellungsgestaltung und -technik), geboren 1984 in Wörgl, lebt in Kufstein, Studium der Europäische Ethnologie (Universität Innsbruck) und Art & Science (Universität für Angewandte Kunst Wien) und ist tätig als Medienkünstler. islandrabe.com
In Kooperation mit:
- WEI SRAUM.Designforum Tirol – Inhaltlicher Input zu Werbung und Grafikdesign, Erstellung Ausstellungsgrafik, Raumbereitstellung, Öffentlichkeitsarbeit, Vermittlungsarbeit (Führungen etc.), www.weissraum.at
- Stadtarchiv/Stadtmuseum Innsbruck – Unterstützung bei Recherche und Bereitstellung historischer Aufnahmen, www.innsbruck.gv.at
- Bibliothek des Ferdinandeum – Unterstützung bei Recherche und Digitalisierung, www.tiroler-landesmuseen.at
Betrachtungen
I.
Was uns heute umwirbt, hatte eine lange Zeit der Professionalisierung und Entwicklung von Selbstsicherheit hinter sich. Alte Werbungen fehlte diese und das macht sie wertvoll: Sie relativieren "das Beste", "das unbedingt Nötige", "das auf keinen Fall zu versäumende", u.s.w. Es war nicht selbstverständlich, dass überhaupt jemand Bedarf an den angebotenen Produkten haben könnte. Ein Möbelhändler richtete sich deshalb nur an ein "bedarfshabendes Publikum". Auch wenn das in Klarheit die Ausnahme bildet, die feinen Unterschiede, die alte von neuen Werbungen auszeichnet, lassen aktuelle Werbebotschaften in gewisser Weise alt aussehen: Die Absichten werden bewusster, die Auswirkungen sichtbarer.
II.
Das professionelle Werben befindet sich in einem Übergang von Massenbotschaften hin zur persönlichen Ansprache (Video 1 zeigt das Anlegen der Kampagne dieses Projektes mittels Google AdWords). Es wird sich zeigen, inwiefern dies das Verhältnis der Menschen zu ihren Dingen verändert. Denn wenn ich nur Fahrradwerbung erhalte, werde ich mir die Selbstsicherheit/das Prestige der SUV-Fahrer irgendwann nicht mehr erklären können – da die öffentliche Meinungsbildung per Anzeigen fehlt. Vielleicht ist das aber auch der Grund, warum Einschaltungen in Massenmedien erhalten bleiben – einmal schauen was kommt.
III.
Hinter digitalen Werbebotschaften – vielleicht sollte man auch von einer Werbeathmosphäre sprechen, wenn Suchergebnisse, Banner, bezahlte Blogartikel, u.s.w. auf einen wirken – steckt der berechnete Verdacht, dass das Beworbene etwas für einen ist. Diese Optimierung von statistischem Verlangen und ausgewerteter Interaktion ist ein bemerkenswerter Kreislauf, den eine Maschinerie effizient abdecken kann, die über genug Rechenleistung und Infrastruktur verfügt, um die persönlichen Werbeflächen (= "mobile Geräte") zu bespielen. Die Frage ist: Wohin führt die ausgelagerte Wunschberechnung, deren Entscheidungsgrundlage sich zu verselbstständigen scheint?
IV.
Die Absichten alter Werbeanzeigen lassen sich, im Gegensatz zu anderen Quellen, relativ gut fassen: Es gilt den vermuteten Wünschen der Zeitgenossinnen und Zeitgenossen zu entsprechen. Was es dafür an Informationen braucht, erzählt indirekt aus dem Alltag vergangener Zeiten. Ein etwas anderer ‚Blick zurück‘ wird möglich, der von Details, von Randnotizen ausgeht und zu Geschichten über Familien, Produkten, Wertvorstellungen, Entwicklung von Sprache und Grafik führt; oder auch zu Schicksalen, wie jenem des von 1900 bis 1914 als Vertreter von Schiffahrtsgesellschaften tätigen Julius Popper (Bild 15), der die Pogromnacht 1938 nur knapp überlebte – die Ereignisse finden sich auf novemberpogrom1938.at dokumentiert (für den Tipp ein Dank an Niko Hofinger).
Video 1
Bild 15
Unterstützung
Das Projekt wurde ermöglicht durch die Förderung des Bundeskanzleramtes Österreich Abteilung II/7 und des Landes Tirols Abteilung Kultur.
Und mit Dank für die Unterstützung an:
- Schreckenthal Aussenwerbung
- r2 Werbetechnik
- Straßenbetrieb, Abteilung für Verkehrseinrichtungen, MA III Stadt Innsbruck
- Paulina Bentlage
- Natalie Deewan
- Martin Sexl
- Thomas Wegmann
- Christian Salić
- Kurt Höretzeder
- Kleiderbauer